Guten Abend, meine Damen und Herren,
es ist einerseits gewiss ein Zufall der Termine, aber andererseits ein folgerichtiges Zusammentreffen, wenn nun im Abstand von
gerade 22 Stunden hier in Wasserburg zwei stadt- und länderübergreifende Projekte ihre Eröffnung feiern: gestern die Theatertage im Belacqua als Festival und Treffen bayerischer Privattheater von München über
Augsburg bis Burghausen und Bayreuth. Und heute diese Eröffnung als Start des Länder-Kulturprojekts „Kunstraum Bayern-Nordrheinwestfalen“ mit einem regelmäßigen Austausch zwischen dem AK 68 Wasserburg und dem Bund
Bildender Künstler Hagenring.
Denn beide Projekte haben durchaus etwas gemeinsam: einerseits die ungewöhnliche, weit über regionale und lokale Belange ausgreifende Qualität und Leistungskraft der
dahinterstehenden Wasserburger Künstler und Organisationen. Denn ohne diese Qualifikation wären beide Projekte nicht zustande gekommen. Und andererseits die richtige Erkenntnis, dass Austausch und
Partnerschaft zugleich das Programm bereichern und die eigene Kapazität nach außen tragen. Eine Einsicht nota bene, die sich an kaum einem anderen Ort so gut ins Stadtbild fügt wie hier Wasserburg, das ja fast ein
Jahrtausend lang der wichtigste Umschlagplatz für Waren, Nachrichten und Meinungen und für Talente hier in Bayern war (wer mehr erfahren will, der lese Mozarts Briefe).
Es ist denn auch, so scheint es mir,
mehr ein Zufall, dass die neue Ausstellungsreihe hier mit einer Künstlerin eröffnet wird, die sich den Lauf der zeit, die Tagblüte des Weltgeschehens, das Medium der Nachrichten und Meinungen schlechthin zum Thema
setzte.
Es gibt von Leo Perutz eine wundervolle kleine Erzählung mit dem Titel „Dienstag, 12. Oktober 1916“. Darin gerät ein österreichischer Offizier in russische Kriegsgefangenschaft. Und in der Einsamkeit
der haft leistet ihm allein eine Ausgabe der Wiener Zeitung von eben jenem Dienstag, 12. Oktober 1916, Gesellschaft, die ihm der Zufall in die Zelle spielt. Er liest die Zeitung täglich, immer wieder, und irgendwann
nimmt jeder Börsenbericht und jede Theaterkritik, nimmt jede Todesanzeige und jeder Leserbrief einen zutiefst bedeutsamen Charakter den Umriss der Phantasie unendlich ausgesponnene Geschichte an.
Dann ist der
Krieg zu Ende. Der Soldat kehrt heim. Er liest im Kaffeehaus wieder Tag für Tag die neueste Zeitung. Aber sie ist plötzlich nur noch totes Papier. Beliebig. Austauschbar. Und während jedes noch so ferne echo der
Ereignisse vom 12.10.1916 ihn auch weiter schmerzhaft in die Seele trifft, muss er sich nun ernüchtert eingestehen: „Man liest die Sachen und eine Stunde später weiß man nicht mehr, was man gelesen hat“.
Ich
glaube, eben darum geht es Irmgard Potthoff hier in ihren Arbeiten. Um Tagblüten eben. Um das tägliche Gedächtnis unserer Zivilisation, das wir allmorgendlich am Kaffeetisch gerade mal kursorisch überfliegen, um es
dann als Altpapier gebündelt zu entsorgen. Und entsorgen müssen, weil uns die Vergangenheit sonst irgendwann die Gegenwart zustellen und ersticken würde.
Sie jedoch verhält sich – allerdings auf ihre Weise –
so wie der gefangene Österreicher. Sie wendet dem Vergänglichen, Vergangenen die ganze Mühewaltung ihrer immensen Kunst- und Arbeitsleistung zu, um es in eine neue, dauerhafte Gegenwart zu retten. Allerdings
versponnen und verwandelt, dem Kokon der Seidenraupe ähnlich umverwoben.
Meine verehrten Damen und Herren: die Kunst Irmgard Potthoffs hat – jenseits all ihrer Bedeutungen – zunächst einmal zwei ebenso
phantastische wie irritierende Außenansichten. Die Fernsicht zeigt uns Kunstobjekte von gelassener, in sich gefasster und fast meditativer Strenge, Stille, Schönheit. Reiner, intensiver, ruhiger und zugleich
lebendiger kann man das Verhältnis von Rhythmus und Form, von Licht und Körper kaum noch definieren.
Denn – dass alle bildende Kunst vom Licht abhängt, im Licht entsteht, sich mit dem Licht verändert, ist
solche eine Binsenweisheit, dass man immer wieder staunt, wie viele Leute – auch und gerade die vom Fach – sie grundsätzlich nicht verstehen. Aber Irmgard Potthoffs Objekte sind buchstäblich aus Licht gemacht und
modelliert aus Schatten. Zwei von ihnen heißen sogar „Lichtspiel“. Und tatsächlich: man verändere nur die Beleuchtung; man verändere auch nur den eigenen Standort in Relation zur Beleuchtung – und man hat ein völlig
anderes Objekt. Aber man fotografiere eine dieser Arbeiten frontal mit Blitzlicht – und man hat eine öde, weitgehend strukturlose Fläche.
Man kann diese Kunst, ein armes und vermeintlich wertloses material
zum Träger einer Komposition aus schierem Licht- und Schattenspiel zu machen, gewiss historisch verorten. Etwa, wie es Klaus Flemming in seinem Katalogtext tut, mit einem Verweis auf die Gruppe ZERO in den frühen
sechziger Jahren, wo Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker sich ja auch das Licht zu ihrem ureigentlichen Kunstthema wählten (und es bleibt bis heute ein geradezu berückendes Kunst-Missverständnis, dass etwa die
Arbeiten von Günther Uecker als eine der reinsten Formen schieren Licht- und Schattenspiels ausschließlich wegen ihres banalen Rohmaterials als Nagelbilder in den öffentlichen Diskurs eingingen.
Aber dieses
Missverständnis hat auch seine legitimen Rechtsansprüche. Womit wir bei der zweiten Außenansicht von Irmgard Potthoffs Arbeit wären: nämlich der Nahsicht.
Denn der Eindruck dieser Nahsicht ist verstörend bis
schwindelerregend. Das Rohmaterial der vermeintlich so gelassenen Licht-Zaubereien sind ja Myriaden und Myriaden mit der Hand gerissener, gedrehter und geflochtener, gerollter und gebündelter, geklebter
Gebirgslandschaften, zu Strukturen ziselierte Zeitungsbögen. Es gibt Arbeiten in dieser Schau, da kriege ich als halbwegs mitfühlsamer Zeitgenosse bereits vom bloßen Hinschauen eine Sehnenscheidenentzündung in den
Handgelenken. Oder – um Lessings Orsina zu variieren: Wer über manchen dieser Objekte den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.
Haben Sie sich z. B. das raumfüllende Gewebe mit dem ambivalent
zutreffenden Namen „Zeitraum“ angesehen? Diese Fäden bestehen ausschließlich – ohne jeden stützende Schnur oder andere versteckte Arbeitshilfen – aus gedrehten, in sich selbst geflochtenen Zeitungen. Und dennoch
hält und trägt das und ist so stabil wie Spinnwebfäden. „Papier ist geduldig“ sagte Irmgard Potthoff heute morgen zu mir, als ich ein bisschen fassungslos davor stand. Und ich habe selten ein Bonmot gehört, das –
bei aller drein gelegten Lakonie – vergleichbar wehtat. Denn das Schlimmste dieses Gespinstes liegt ja unschuldig am Boden: eine Art Wollknäuel, in dem der sanft geflochtene Irrsinn noch ein paar hundert Meter
weitergeht. – Erinnern Sie sich an die wundervolle Dagobert Duck Geschichte mit dem Riesenknäuel seiner im Laufe eines langen Entenlebens gesammelten Schnurreste? Auch Irmgard Potthoff hat in diese Schnur, in dieses
Nornenseil, buchstäblich Zeit hineingeflochten: Zeitungszeit und Lebenszeit.
Genau wie in ihre drei Beete. In die wie in einen japanischen Zen-Garten unendlich viele Furchen gezogen sind, die in sich wieder
große Muster, gleichsam Feldkreise und Quadrate bilden. Aber jede dieser Furchen ist ein mit der hand ausgerissenes Zeitungsblatt. und jedes Muster wieder Teil einer Blatt für Blatt von Hand gerissenen Vertiefung.
Werbung bringt Farbe ins Leben, heißt ein blöder Spruch. Und wenn Sie unter diesem Aspekt noch mal genauer hinsehen, werden Sie bemerken, dass Irmgard Potthoff nicht ein einziges Zeitungsblatt wahllos nimmt.
Sondern dass sie farbig gedruckte Werbeseiten sehr gezielt und sparsam als Effekte einsetzt; während sie ansonsten mit nicht minder großer Konsequenz Schwarz-Weiß-Seiten bevorzugt. Sie schafft darin wieder
Strömungen und Rhythmen, je nach dem, ob sie mit Text oder mit Bild bedruckte Abschnitte oder reinweiße Randbereiche verwendet. Sie zeigt, dass so eine Zeitung uns sogar ganz grundverschiedene Gesichter zeigen kann,
je nachdem, ob man sie mit dem Bug oder Schnitt nach vorn betrachtet und verwendet.
Aber sie nimmt dabei stets nicht allein den Werkstoff, sondern auch das Medium Zeitung ernst. Zum Beispiel, wenn sie jeweils
eine Zeitungswoche tatsächlich als Kokon verschnürt und so am Ende den kompletten Zeitraum vom 5.10.98 bis zum 6.4.99 wochenweise eingepuppt, kartiert und konserviert und zugleich abgesperrt, vor uns verschlossen
hat: in 36 Zeitkapseln.
Doch selbst die ist nicht für die Ewigkeit. Denn dass nichts so alt sei wie die Zeitung von gestern, gilt auch für das Material. Zeitungen gilben, werden brüchig und verfallen, altern
mit der zeit und durch die Zeit. Und Irmgard Potthoff zeigt uns das sehr schön in jener Serie von Paaren, in der sie je zwei winzige Zeitungsbündel gegenübersetzt: ein verpacktes, eingesponnenes und damit
konserviertes auf frisch glänzendem, polierten Stahl. Sowie ein unverpacktes, gilbendes auf altem Rostblech.
Und trotzdem lässt sie aus dem Verwelken Blumen blühen, schafft aus schnöden Zeitungsrollen im
Stahlring ein „hortus conclusus“, einen zärtlich sanften Rosengarten. Oder sie formt aus Zeitungsseiten Bälle (die übrigens, bevor Sie über der Frage verzweifeln, trotz ihrer perfekten Rundheit nicht etwa um eine
Styroporkugel oder dergleichen herumgewickelt sind, sondern ausschließlich mit sich selbst gefüllt, also von den Rändern her zur Mitte hin zum Ball gerollt – versuchen Sie das mal zu Hause, und Ihr Respekt vor
dieser Ausstellung wird spätestens nach dem fünften missglückten Bollen ins Unermessliche wachsen).
Aber mit diesen Bällen, deren jeder ein hochbewusstes eigenes Zeitungsmuster, eine Chiffre oder Nachricht
präsentiert, spielt sie nun neuerlich ein Spiel; verschnürt sie scheinbar, so wie sie ihre Kokons verschnürte oder Zeitungen zu Schnüren flocht. Verdrahtet sie, so wie sie Drähte mit Zeitungspapier umspann, um damit
autonome Raumgespinste, Fadenkuben aufzubauen. Doch die Drähte oder Fäden auf den Bällen sind gar keine. Sondern einzig Fäden einer mit extremer Treffgenauigkeit darüber gegossenen schwarzen Farbe. Und diese wieder
freihand gegossene schwarze Farbe fädelt sich dann bruchlos weiter Bücher in die Graphiken, wickelt sich in ihnen wiederum zu Schnurknäueln auf Zeitungskreisen.
So hängt alles hier zusammen mit allen, so
ergibt jede Arbeit sich aus jeder, wachsen sie – Tagblüten, Rosengärten, Beete – wirklich und sichtbar vegetativ zusammen und auseinander.
Meine verehrten Damen und Herren: der beliebteste, fatalste, dümmste
Einwurf der Barbaren gegen neue Kunst lautet: Das kann ich auch. Bei Irmgard Potthoff müsste er – rein handwerklich – beschämt von selbst verstummen. Denn solch ein Übermaß an Künnen und Geduld und stiller Energie
lässt einen bescheiden werden. Nur – und das ist es, was auch den guten Klavierspieler vom großen Pianisten trennt: dies Handwerkliche selber ist noch nicht die Kunst. Sondern der Flügelschlag, der es – buchstäblich
– hinauf ins Licht einer Gedankenreise trägt.
Zu dieser Reise sind Sie alle hiermit aufgefordert. Ihnen, Frau Potthoff Dank, dass Sie uns dafür Ihre Flügel leihen. Und Glückwunsch dem AK 68 , dass er eine
derart prächtig präparierte Startbahn liefert.
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